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Martin Hentschel

Trügerische Idyllen

Zur Malerei von Stefan Kürten, 2007



Das Leben beginnt gut, es beginnt umschlossen, umhegt, ganz warm im Schoße des Hauses. Gaston Bachelard

 

IM LICHT ENTRÜCKTE BILDDINGE

In die Déjà-vu-Empfindungen, die die Betrachtung der Gemälde von Stefan Kürten begleiten, mischt sich zuweilen eine eigentümliche Befremdung. Sie rührt aus dem Licht, in das die Gegenstände getaucht sind. So glaubwürdig die Bilddinge in ihrem Illusionismus auch anmuten, sie wirken doch seltsam entrückt, als hätte das Licht ihre Farbigkeit übermäßig absorbiert. Mitten in der Helle des Tages können plötzlich Zweifel aufkommen, ob sich das Gesehene nicht eher dem Licht des Mondes als dem der Sonne verdankt. Dann ist die Szenerie von einer Tonigkeit überzogen, die in die hellsten Partien wie in die dunkelsten hineinreicht.

Diese Phänomene liegen im Farbaufbau begründet. Kürten beginnt seine Gemälde meist mit einem Gold- oder Silberton; dieser definiert die unterste Farbschicht. Das Gegenständliche, das anschließend mittels zeichnerischem Pinselduktus nach und nach an Gestalt gewinnt, sinkt doch bis zu einem gewissen Grad in den Grund ein. Erst im Verlauf von mindestens zwei Farbaufträgen schält sich das zeichnerische Gerüst in Sepiatönen aus dem Untergrund heraus. Die buntfarbigen Partien erfordern schließlich weitere Farbschichten, die immer lasierend aufgetragen werden. Doch wieviel Farbe der Künstler auch verwendet, sie bleibt doch ihrer Beziehung zum Gold- und Silbergrund verhaftet. Daher kommt es, dass die Gemälde, bei Seitenlicht betrachtet, unversehens aufzuleuchten vermögen. Ihre Farbigkeit scheint von einem gleißenden Licht erfasst, das aber beim Standortwechsel oder bei verändertem Lichteinfall ebenso rasch wieder dem Eindruck der Buntfarbigkeit weichen mag.

Hinzu kommt, dass die Schattenpartien kaum zur Plastizität der Gegenstände beitragen; in bräunlichen bis grauen Tönen gehalten, wirken die Schatten selbst merkwürdig körperhaft – eine Körperhaftigkeit, die sich neben und parallel zur gegenständlichen Darstellung entwickelt. Umgekehrt partizipieren noch die lichtesten Stellen insgeheim an jenem unwirklichen Licht, das in die Schatten verwickelt ist. Die Bildfarbe hat dergestalt den Charakter eines verdichteten Gewebes, flüchtig und unzerreißbar zugleich, das einmal mehr zum Licht und ein andermal mehr zum Dunkel tendiert, während die mittleren Tonwerte das Bild im Innersten zusammenhalten. Davon werden sämtliche Bildgegenstände affiziert: Das Dargestellte erscheint kaum je greifbar, so illusionistisch es sich auch ausnehmen mag.

 

DAS SONNTÄGLICHE HAUS

Die Häuser und Gärten, die das Universum der Malerei Stefan Kürtens kennzeichnen, sind nicht von dieser Welt. Ihre Substrate sind zwar allesamt Fotografien wirklicher Häusern und Gärten entlehnt, die der Künstler aus Magazinen, Prospekten, Büchern entnimmt oder auch selbst anfertigt. In der Malerei aber geschieht etwas mit ihnen, das sie zu Objekten von Tagträumen werden lässt. Kürten hat geäußert, dass die Vorstellung des Hauses eng mit seiner Kindheit verwoben sei. Der Gedanke an ein eigenes Haus, innigster Wunsch seiner Eltern, habe eine Gleichstellung von „Haus“ und „Glück“ evoziert, die sich tief in ihm eingegraben habe. Als eine entscheidende Motivation seiner Kunst dürfe man daher die Diskrepanz zwischen jener Idealvorstellung und den alltäglichen Sorgen und Ängsten, die sich notgedrungen einstellten, betrachten. 1

Diese Diskrepanz drückt sich in verschiedenen Formen aus. Betrachten wir etwa das Bild Sunday, Sunday (2001), so gewahren wir die Gartenseite eines Bungalows. Die Verbindung zwischen Haus und Garten wird durch einen großflächigen Plattenbelag aus Natursteinen gewährleistet, der von einzelnen Blumenkübeln gesäumt ist. Daran schließt eine Rasenfläche an, die wiederum von dichten Tannen begrenzt wird. So anmutig diese häusliche Idylle  auf den ersten Blick erscheinen mag, sie wirkt doch, näher besehen, merkwürdig dumpf und klaustrophobisch. Am Ende des Gartens ist auch die Welt zuende, sie rundet sich dort. Der von unscheinbaren blauen Tupfen durchwirkte Goldgrund des Himmels lässt keine Vorstellung eines Horizonts aufkommen. Das wenige Sonnenlicht, das sich an den Fensterrahmen und Außenwänden verfangen hat, wird durch die gleichförmige Tonigkeit des Ganzen gedämpft. Hinter den Fenstern des Hauses mag kein Leben aufkommen; die Scheiben spiegeln nur die sich selbst genügende, gehegte Natur. Wir werden unweigerlich an jene lähmenden Sonntage der Kindheit erinnert, an denen die Welt stillstand, wo das bunte Treiben des Alltags einem Ruhebedürfnis wich, das allein den Erwachsenen angemessen war, dem Kind indessen quälende Langeweile bedeutete. Mit äußerst verhaltenen Mitteln gelingt es Kürten, die heimische Idylle zu einem falschen Traum erstarren zu lassen, nicht ohne das Ideal als Folie gegenwärtig zu halten.

Die Arbeit Perfect Day (2002) beschreibt eine andere Variante dieser Ambivalenz. Ein typisches spitzgiebeliges Einfamilienhaus aus den 1960er Jahren bildet den Fluchtpunkt einer ausufernden Gartenphantasie. Die mannshohen Mauern, nur von hölzernen Toren durchbrochen, deuten auf die gesteigerte Intimität des Gartenareals. In der Tat enthält es alle Ingredienzen einer aufdringlich betörenden Naturkulisse mit Vögeln, Fischteich und Gartenzwergen – nur wirken die Zutaten seltsam ineinander verschoben und synthetisch. Das bunte Tuch des Sonnenschirms verbindet sich mit den Steinplatten des Weges zu einer schräg abfallenden Ebene. Der sonnige Gartensessel lädt zum Verweilen ein, doch die bunt gefiederten Vögel in seiner Nähe sind bedrohlich groß geraten. Eine Weile nur, dann wird auch der Rest dieses scheinbar behaglichen Anwesens zugewachsen sein, der Garten in einen hundert Jahre währenden Dornröschenschlaf versinken, der keinen Zugang mehr ermöglicht. Auch hier bleibt also die Ambivalenz zwischen Wunschtraum und Albtraum erhalten, das Kippmoment entwickelt sich in der Übersteigerung des Schönen. Betrachten wir ein drittes Beispiel, das Gemälde Beautiful People (2004 – 2005).   BILD

Anstelle des Hauses finden wir hier den Wohnwagen, Chiffre des Provisorischen, das überall in der Welt des Schönen sich einzurichten imstande ist. Der Platz, der ihn beherbergt, ist eigens dazu bestimmt; ein Hinweisschild deutet auf spielende Kinder. Der Ort wird durch ein dichtes Werk tropischer Sträucher und mächtiger Palmen abgeschlossen, die Sonne verstreut sich in warmen Flecken über die Szenerie. Wo aber das Blau des Himmels Anzeichen räumlicher Weite und Tiefe geben könnte, erstreckt sich ein fein gewirktes Tapetenmuster wie ein Vorhang. Seine Noblesse erscheint dem Charakter des Ortes durchaus angemessen, es wirkt wie eine regelrechte Verlängerung des regelarmen Blattornaments. Genau diese Kongruenz bringt aber die Vorstellung des modernen locus amoenus zum Einsturz. Mit einem Mal erkennen wir, dass der Wohnwagen wie dauerhaft abgestellt wirkt, die Anhängerkupplung zugedeckt, die Fenster tot. Der Traum grenzenloser Mobilität wird von der Realität einer arretierten Immobilie eingeholt. Wiederum mischen sich Kindheitserinnerungen in das Bild, Gedanken daran, dass die Reise, zu der man mit dem Eltern aufbrach, ihr Abenteuer eher in der Vorfreude der Imagination als am Ziel selbst ihre Erfüllung fand. Am erträumten Ziel angelangt, konnte das Exotische des Ortes sich unvermutet in einen nicht endenden, peinigenden Sonntag verwandeln.

 

1  Vgl. Von Columbine bis Kaarst. An der Schwelle von Idylle und Kitsch. Oliver Zybok sprach mit dem in Düsseldorf und New York lebenden Künstler Stefan Kürten,

in: Kunstforum International, Bd. 179, Febr. – April 2006, S. 121 ff.

2  Gegenüber den ursprünglichen, in den Hirtengedichten von Theokrit und Vergil hervorgebrachten Topoi der Idylle kann man die moderne Idylle des häuslichen Gartens als „Schwundstufe der Idylle“ betrachten.

Vgl. Rolf Wedewer, Jens Christian Jensen, Hrsg., Die Idylle. Eine Bildform im Wandel. Zwischen Hoffnung und Wirklichkeit, Köln 1986, S. 28 ff.

 

ALLTÄGLICHKEIT ALS EMBLEM

Eine von Zweckrationalität und Zeitökonomie beherrschte Arbeitswelt fordert als Fluchtpunkt geradezu die Idylle heraus, mag sie sich in der kleinen Flucht der Urlaubsreise oder in der großen der eigenen Villa äußern. Nicht von ungefähr vergegenwärtigt Kürtens Œuvre auch jene Motive, die sich diesseits der Idylle befinden, in unmittelbarer Nähe des Geschehens, dem man eigentlich entfliehen möchte.

So beschreiben die kleinformatigen Gemälde Realschule und New Morning (beide 2002) vor allem die Unwirtlichkeit der Provinzstädte, ihre bedrückende Normalität. Insofern, als uns die Vorlagen für diese Arbeiten als Schwarzweiß-Photographien des Becher- Schülers Volker Döhne zuhanden sind, können wir im Vergleich auch die erfindende Tätigkeit des Malers daran beobachten. Döhnes Photographien sind jeweils Bestandteile längerer Sequenzen, die um Landmarken im städtischen Umfeld kreisen. Fokus und Perspektiven ändern sich von Bild zu Bild, doch die Schornsteine bleiben als manifeste „Wahrzeichen“, wie der Photograph sie nennt, jeweils erhalten. Kürten verändert den Fokus, indem er die signifikanten Schornsteine in beiden Fällen eliminiert. In dem Gemälde Realschule wird dadurch die Baulücke zwischen den Mehrfamilienhäusern zum Hauptmotiv. Er eliminiert aber auch die spielenden Kinder um den Ford Fiesta, während er im Gegenzug mit dem Titel Realschule gedanklich ein Stück Kindheit wieder einbringt; mehr noch: der Titel spricht jene mittlere gesellschaftliche Sphäre an, von der das Bild handelt.

Die eigentlich erfindende Tätigkeit aber liegt in der Farbgestaltung. Hier bietet der Künstler alle Mittel der Wahrscheinlichkeit auf, um den Ort in seiner Tristesse und Würde zu charakterisieren. Und so ist der Ort: Man hat sich darin eingerichtet, steht in Arbeit und Brot, die Gardinen und Topfpflanzen sind an ihrem Platz, er reicht für die Garage, um dem Kleinwagen einen guten Wiederverkaufswert zu sichern; kein Mangel also. Entscheidend ist erneut der Himmel, der hier als monochrom goldbronzene Fläche ausgebildet ist, nur wenig verschieden von der Ockerfarbe der Brandmauern. Im selben Maße, in er dem realen Ort Weite und Atemluft entzieht, im selben Maße lässt er die übrigen Elemente des Bildes zum Emblem gerinnen – Emblem eines Angestellten-Daseins, das in der mittleren Sphäre der Architektur aufgehoben ist und nun für alle Zeit still gestellt bleibt.

Nicht anders ergeht es dem Ensemble von Mittelstands-Gebäuden, das in New Morning thematisch ist. Werkstatt und Wohnen befinden sich in unmittelbarer Nachbarschaft, die Welt ist in Ordnung, auch wenn diese Ordnung nicht weiter reicht als bis an den eng definierten Horizont. Der neue Morgen wird wie der alte sein, ohne allzu große Erwartungen, aber auch ohne allzu böse Überraschungen: wohlbehütet, vertraut und gleichförmig.

Man mag angesichts dieser Durchschnittshäuser an jenes singuläre Durchschnittshaus denken, das Martin Honert im Rückblick auf seine Bahnfahrten zwischen Bottrop und Essen als eines beschreibt, das in ihm „immer wieder ein Gefühl der Würde und Behaglichkeit“ auslöste. 3  Miniaturisiert, aber doch signifikant größer als das Haus einer Modelleisenbahn, schuf Honert mit seiner Skulptur Haus (1988) ein zeittypisches Erinnerungsmal, das wie bei Kürten alle Ingredienzen jener Kindheit im Mittelstand enthält, die beide Künstler verbindet.

Hier wie dort wurde ein beinahe zufälliges, wenngleich oft gesehenes Ambiente aus dem Verband der individuellen Gedächtnisbilder gelöst, um es für immer zu bewahren, in all seiner begrenzten Schönheit.

 

3  Zit. nach Martin Honert, Werkverzeichnis / Catalogue Raisonné 1982 – 2003, New York – Köln 2004, ohne Pag. (Nr. 12)

 

 

BÜRGERLICHKEIT UND ESKAPISMUS

Diese Möglichkeit und der Anstoß, ins kollektive Gedächtnis überzutreten, teilt sich auch bei der Arbeit African Safari Club (2003) mit. Kürten hält hier abermals ein denkwürdiges Stück Stadtarchitektur mit emblematischer Gültigkeit fest – eine Straßenzeile, die sich ebenso in Duisburg wie in Oberhausen, Wolfsburg oder Karlsruhe befinden könnte, auf paradoxe Weise austauschbar und unverwechselbar zugleich. Zweifellos in den 1960er Jahren erbaut, mit dem Einsprengsel eines neueren Hotels, vergegenwärtigt es jene typische Mischnutzung von Wohnbereichen, Ladenlokalen und Geschäftspraxen. Hundertmal ist man daran vorbeigelaufen, ohne je den Blick zu heben, so sehr ist diese Häuserzeile Bestandteil der Befindlichkeit für mehrere Generationen geworden – auch das Reisebüro hat man fraglos hingenommen. Erst in der Darstellung des Künstlers erfährt jenes Schild, das Reisen nach Afrika verspricht, signifikanten Charakter. Tatsächlich deuten Schilder, gleich welcher Art, allermeist auf die nähere Umgebung ihres Standorts. Hier indessen wird mit der Vokabel African Safari Club das genaue Gegenteil dessen evoziert, was den Standort eigentlich ausmacht. Eskapismus und Bürgerlichkeit rücken im architektonischen Verband aber auf ein und dieselbe Ebene. Insofern werden hier die beiden gedanklichen Gegenpole, aus denen sich die Bilderwelt Stefan Kürtens insgesamt speist, dialektisch zusammengeführt.

Einmal erzählt Kürten davon, wie er als Kind oft am Rande des Wohnzimmerteppichs saß, noch in der warmen Zone also, aber doch nah genug am Fernseher, dem die Hauptaufmerksamkeit galt. 4  Diese Geschichte liefert uns einen weiteren Deutungshorizont für die Verbindung von Ornamenten und privilegierten Orten, wie wir sie etwa in der Arbeit Beautiful People (s. o.) vorfanden. Über das Vehikel des Fernsehgeräts ist also die Beziehung zwischen Bürgerlichkeit und Eskapismus immer schon angelegt. Auch der Teppich selbst, der doch einerseits ganz heterogenen Wohnzimmern assimiliert werden kann, bildet andererseits, indem er das Fremdartige gefahrlos geglättet und kanonisiert zur Anschauung bringt, einen Hort des Exotischen innerhalb der eigenen vier Wände, von dem aus die Träumereien ihren Ausgang nehmen können.

Seit 2002 etwa haben die Gemälde, in denen Kürten einen Teil des Bildes mit Ornamenten überzieht, seien sie Teppichmustern oder kostbaren Tapeten entnommen, deutlich zugenommen. In der Verschränkung von Ornament und Bild hat er eine Form gefunden, den Mentalitäten bürgerlichen Eskapismus gleichzeitig eine äußere Projektion und eine innere Gestimmtheit zu vermitteln. Dabei kann sowohl der exotische Ort vermöge des Musters in das heimische Refugium zurückgeholt, wie umgekehrt der heimische Ort mit den Insignien fremdartiger Schönheit ausgestattet werden. 5

Letzteres geschieht beispielsweise in den Gemälden Balcony (2003) und Black Hole Sun (horizontal) (2006), die, jeweils parallel zur Bildfläche angeordnet, ganzflächig mit Ornamenten überzogen sind. In Balcony ist Doppelung von Ornament und Gegenständlichkeit besonders wirkungsvoll, insofern als der Künstler hier unversehens zwei gigantische Königskerzen einfügt, die das durchschnittliche Mehrfamilienhaus traumwandlerisch an einen exotischen Ort versetzen. Sinnfällig wird die Transformation in dem Dreiklang der Farben Rot, Gelb und Blau, der die Blumen mit dem Sonnenschirm auf einem der Balkone des Hauses zusammenspannen.

4  Im Gespräch mit dem Verfasser am 31. Januar 2006

5  Das liegt an der Doppeldetermination des Teppichmusters, es ist heimisch und exotisch in eins.



ÜBERGÄNGE ZWISCHEN ORNAMENT UND BILD

Kürten benutzt aber auch Ornamente, die im Moment des Übergangs zur gegenständlichen Darstellung begriffen sind. Als eines der frühesten Beispiele dafür darf das Gemälde Forever Now (2001) gelten. Es zeigt eine helle Straße mit den hochragenden Gebäuden einer Großstadt, beleuchtet vom Licht eines sonnigen Nachmittags. Der blaue Himmelskeil, den die Straßenflucht offen lässt, ist mit einem Gewoge aus rudimentären Ornamenten bedeckt, deren Struktur zugleich an ein Firmament aus Sternen und Planeten erinnert. Van Gogh etwa hat in seinem berühmten Gemälde Die Sternennacht (1889) das Firmament umgekehrt in ein rudimentäres Ornament verwandelt und auf diese Weise die Sichtbarkeit des Kosmos für den Menschen wiederhergestellt. Auch Kürtens Forever Now zehrt noch von dieser alten Identifikation von Himmel und Kosmos;  6  sein ornamentierter Sternenhimmel – mitten am helllichten Tag – versöhnt die Stadt mit der Welt, die Wiege der Kultur mit der Wiege der Natur.

Der Übergang vom Gegenständlichen zum Ornamentalen – und vice versa – kann aber auch ironische Form annehmen; das geschieht beispielsweise in dem Gemälde From Here to Eternity (2004).

Kürten bietet hier ein ganzes Arsenal an Landhäusern auf, Derivate jener „Herrschaftsarchitektur“, die ihren Ursprung in den Villen von Palladio hat. 7  Walter Benjamin hat das gesteigerte Naturerlebnis, da sich dem Bewohner im Ausblick aus der italienischen Villa vermittelt, mit den Worten beschrieben: „Ja, ihm hängt die Landschaft im Fensterrahmen, nur ihm hat Gottes Meisterhand sie signiert.“ 8  Kürten übersteigert und kippt dergestalt dieses Erlebnis, indem er die Flora in seinem Bild überdimensioniert beziehungsweise die Landhäuser miniaturisiert. Und er verwandelt die ungezähmte Natur der gezähmten des Gartens an: Sie erscheint nicht von ungefähr aus einem Botanikbuch entsprungen. Wie dann wiederum aus Zweigen und Blattformen der Bilderbuchpflanzen ornamentale Muster erwachsen, ist schon meisterlich zu nennen. Hier kommt die gewünschte Identifikation von Garten und Idylle schlagartig zum Vorschein. Sogar der tänzelnde Rauch über dem Kamin wird von der ornamentalen Befriedung erfasst. So gerät das Traumbild bürgerlichen Wohnens in den Sog einer biedermeierlichen Ordnung, die pikanterweise vom röhrenden Hirsch bekrönt wird. Die Art und Weise, wie Landhäuser und Pflanzenwelt in ihrer gegenseitigen Verschlingung buchstäblich bodenlos werden, erinnert an eine Ornamentgroteske. 9  Ornamentale und gegenständliche Bildpartien rücken auf ein- und dieselbe Realitätsebene, die sich als Projektion einer „vagabundierenden Phantasie“ 10  darstellt.

Es hat nicht wenig den Anschein, als führe uns die Untersuchung ornamentaler Strukturen in den Gemälden von Stefan Kürten zugleich auch ins Zentrum seiner Malweise. Am Anfang beschrieben wir, dass die Bildfarbe den Charakter eines verdichteten Gewebes habe. Tatsächlich trägt der Künstler sämtliche Farbflächen immer mit einem gleich dünnen Pinsel auf, so dass wir es kaum je mit Farbflächen im eigentlichen Sinn, vielmehr mit Farbgeweben zu tun haben. Dementsprechend betont Kürten, dass ihm jeder Quadratzentimeter im Bild gleich wichtig sei. 11  Insofern gestalten sich die Übergänge zwischen hellen und dunklen Partien in einem Gemälde niemals wirklich scharf gerändert; die dunklen Zonen treten niemals wirklich in den Hintergrund, sondern haben Anteil an der das Bildfeld überreifenden Gewebestruktur, die sich vor allem als Oberflächenstruktur zeigt. Die Gewebestruktur bestimmt maßgeblich den Gesamteindruck der Werke; sie bleibt auch bei allem Illusionismus stets intakt.

In gewisser Weise nimmt Kürten mit dieser Farbstruktur jene alte Erbschaft auf, die uns aus den Gemälden von Pierre Bonnard und Edouard Vuillard geläufig ist. Beide Maler suchten geradezu nach ornamentalen Motiven in ihrer Umgebung, um daran die neue Bildform der Flächenordnung zu erproben und zu exemplifizieren. 12  Bei Kürten hat sich indessen die ornamentale Struktur bereits in den Pinselauftrag eingesenkt. Gerade an den zahlreichen Himmelsdarstellungen ist erkennbar, dass die gewebeartige, getupfte Struktur immer schon auf dem Weg zum Ornament ist, auch wenn sich ein wirkliches Ornament noch gar nicht abzeichnet. So gesehen ist die Verwendung von Mustern und Ornamenten in seiner Malweise bereits im Kern angelegt. Wie gar auch gegenständliche Großformen von diesem Impetus zum Ornamentalen affiziert werden können, zeigt zum Beispiel das Gemälde Sleepwalking (2006). Dort spiegelt sich im oberen Teil die Bild beherrschende Baumgruppe als ganze. Fast unmerklich wird auf diese Weise die zufällige Erscheinung des Blattwuchses in einen ornamentalen Zusammenhang verstrickt, durch den die Natur dem Ordnungsgefüge des privilegierten Hauses einverleibt wird.

 

6  Vgl. Joachim Ritter, Landschaft: Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft, in: Ders., Subjektivitaät. Sechs Aufsätze. Frankfurt a. M., S. 147 ff.

Vgl. Reiner Bentmann, Michael Müller, Die Villa als Herrschaftsarchitektur. Versuch einer kunst- und sozialgeschichtlichen Analyse. Frankfurt a. M. 2. Aufl. 1981

8  Walter Benjamin, Kurze Schatten, in: Ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Frankfurt a. M. 1969, S. 320

9  Zur Ornamentgroteske vgl. Friedrich Piel, Die Ornament-Grotteske in der italienischen Renaissance. Zu Ihrer kategorialen Struktur und Entstehung. (Neue Münchner Beiträge zur Kunstgeschichte, Bd. 3) Berlin 1962

10  „Grotesk ist das Unwahrscheinlich- Ausgefallene, das [...] das Übertriebene bis zur Künstlichkeit (Unnatürlichkeit) des Absichtlich- Arrangierten spürbar werden lässt. [...] Insofern lebt sich im Grotesken eine von allen ernsthaften Wirklichkeitsbezügen gelöste, vagabundierende Phantasie aus.“ Manfred Thiel, Die Auflösung der Komödie und die Groteske des Mythos, in: Studium Generale, Jg. 8, 1955, Heft 4, S. 279

11  Im Gespräch mit dem Verf. am 29. Dezember 2006

12  Man mag sich die oft zitierten Sätze von Maurice Denis, der als Maler weniger überzeugend war, in Erinnerung rufen: „Ich denke, dass ein Bild vor allem ein Ornament sein sollte. Die Wahl des Themas für die Darstellung ist gleichgültig. Durch farbige Flächen, durch Nuancen der Farbtöne, durch Harmonie der Linien versuche ich in den Geist einzudringen und die Gefühle zu erregen.“

Zit. nach Ernst H. Gombrich, The Sense of Order, Oxford 1979, dt. Ornament und Kunst. Schmucktrieb und Ordnungssinn in der Psychologie des dekorativen Schaffens. Stuttgart 1984, S. 70



DAS UNHEIMLICHE ALS KONTRAPUNKT DES IDYLLISCHEN

In jüngster Zeit finden wir in Kürtens Œuvre einige Gemälde, in denen innerhalb der Darstellung von Büschen und Blattwerk merkwürdige Einsprengsel auftauchen, Nestern ähnlich, scheinbar ohne Zusammenhang mit den floralen Strukturen. Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass die Rundformen, die sich farblich von der Umgebung abheben, jeweils Bruchstücke von Mustern enthalten. Insofern könnte man von einem versprengten Ornament sprechen. Am auffälligsten ist dieses Formenrepertoire in der Arbeit Meererbusch (John Carpenter) (2006) entwickelt.   BILD

Obwohl die dem Haus vorgesetzte Garage und der schmale Balkon starke Schlagschatten auf die fahlweiße Giebelfront werfen, werden wir doch im Unklaren darüber gelassen, ob es sich um Tageslicht oder Nachtlicht handelt. Diese Unsicherheit vermittelt etwas Unheimliches, und die in den Bäumen versprengten Nester tragen nicht wenig zu diesem Gefühl bei. Ungerufen wird die Erinnerung an jene verhängnisvollen Blumen wach, von denen der Film The Invasion of the Body Snatchers erzählt: Blumen, die in den Vorgärten und Häusern über Nacht seelenlose Doppelgänger der Hausbewohner hervorbringen, während sie diese im Schlaf buchstäblich aussaugen. 13  Kürtens versprengte Ornamente wirken vor allem dadurch bedrohlich, dass sie einerseits als Fremdkörper wahrgenommen werden – als sei der Bildträger an diesen Stellen gleichsam durchgesengt, sich andererseits aber bis zum gewissen Grad ihrer Umgebung assimilieren. Der Untertitel des Bildes, der auf den Altmeister des Horrorfilms deutet, spielt dabei der Anmutung des Angst Erregenden in die Hände.

Es gelingt Kürten aber auch mit anderen Mitteln, die unheimliche Seite seines Generalthemas ‚Haus’ hervorzuheben. In dem Gemälde Ghost Song 2 (2005) (Abb. S. 18) etwa wird das Unheimliche allein durch die Diskrepanz zwischen dem leuchtenden Haus und dem sich verdunkelnden Himmel erzeugt; und wiederum partizipiert das Ornament des Himmels insofern daran, als es sich nahtlos mit dem gespenstisch dunklen Baum auf der rechten Seite verbindet. Was mag in diesem Haus wohl vor sich gehen?

Und was in jenem Haus, das das Hauptmotiv des Gemäldes Shadowtime (2006 – 2007) bildet? In dieser jüngsten Arbeit verzichtet der Künstler auf ornamentale Muster; lediglich zur linken und rechten Seite des Hauses fügt er Spiegelungen ein, die wir schon aus Sleepwalking kennen. Sie sind hier aber gänzlich anders motiviert: Gegenständliche Versatzstücke, die den Realitätsgrad der Darstellung irritieren und beim Betrachter ein leichtes Schaudern hinterlassen. Das eigentlich Unheimliche aber resultiert aus dem äußerst sparsamen Einsatz von Buntfarben, wodurch die übermäßige Verschattung des Szenariums pointiert wird; demgegenüber wirkt die sonnig-weiße Wandfläche des Hauses beinahe irreal. Wir haben den Eindruck, als seien Licht- und Schattenpartien zwei unversöhnlich nebeneinander bestehende Elemente. Dem Gesamteindruck entspricht auch, dass wir jene goldfarbenen Zonen, die wir in anderen Werken gewöhnlich mit sonnigen Flecken identifizieren, hier eher mit jenen gespenstischen Nestern aus Meererbusch in Verbindung bringen.

Mit dem Unheimlichen hat sich Kürten eine Sphäre des Hauses erarbeitet, das als Kontrapunkt des Idyllischen gelten kann. Es ist das Thema unzähliger Bücher und Filme. Man denke etwa an Filmklassiker wie The Haunting von Robert Wise (1963) 14,  wo das Haus in der Vorstellung der Protagonistin Eleanor wie ein lebendes Wesen agiert, oder an Alfred Hitchcocks Psycho (1960), wo das unheimliche Haus zum eigentlichen Protagonisten des Films aufsteigt. Sigmund Freud hat herausgearbeitet, wie das Unheimliche dann auftritt, wenn etwas ehemals Vertrautes sich durch einen Prozess der Verdrängung entfremdet. 15  Das beleuchtet den Zusammenhang zwischen dem Behaglichen und dem Unheimlichen in der häuslichen Sphäre, der sich auch in der Polarität von Dachboden und Keller ausdrückt. 16

Nicht zuletzt gibt uns Robert Louis Stevensons’ Doppelfigur Dr. Jekyll und Mr. Hyde ein Indiz an die Hand, das Idyllische und das Unheimliche gleichermaßen als Formen bürgerlichen Eskapismus zu begreifen: Wo sich die ‚helle’ Seite ihr „Vollglück in der Beschränkung“ 17  sucht, findet die ‚dunkle’ ihre Erfüllung im dämonischen Exzess. Von gesellschaftlichen Realitäten und Zwängen ist ersteres so unbetroffen wie letzteres, sie bleiben außen vor.

Solchermaßen gewinnt Kürten mit dem Unheimlichen eine Facette im Thema ‚Haus’, die sein Spektrum ungemein erweitert. Hier erfährt aber auch sein Verzicht auf jegliche Menschendarstellung, der ohnehin eine je eigene Beziehung zwischen Betrachter und Szenarium schafft und unabhängig von jeder Thematik gilt, eine besondere Brisanz.

Die thematische Erweiterung offenbart einmal mehr, dass Kürtens malerische Mittel grundsätzlich multivalent sind. Nicht allein die unterschiedliche Verwendung des Ornamentalen deutet darauf, auch der Einsatz des Bildlichts gestaltet sich äußerst variabel und ist gleichermaßen geeignet, heterogene Stimmungslagen und Sinnhorizonte zu evozieren. Diese Möglichkeit der Verwandlung innerhalb derselben malerischen Mittel bezeugt wiederum, „dass eine bildnerische Konfiguration nicht dies oder jenes ‚ist’, sondern etwas oder auch etwas anderes ‚sein könnte’.“ 18  Sie bezeugt die produktive, erfinderische Tätigkeit der Malerei, ihr vornehmstes Geschäft.

 

13  Die erste Filmfassung stammt von Don Siegel (1956), die zweite, bekanntere von Philip Kaufman (1978), deutscher Verleihtitel: Die Körperfresser kommen.

14  Deutscher Verleihtitel: Bis das Blut gefriert.

15  Sigmund Freud, Das Unheimliche (1919), in: Ders., Psychologische Schriften. Hrsg. von Alexander Mitscherlich u. a., Studienausgabe Bd. IV, Frankfurt a. M. 8. Aufl. 1994, S. 241 ff.

16  Vgl. Gaston Bachelard, Poetik des Raumes, Frankfurt a. M. – Berlin – Wien 1975, Kap. I

17  Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, in: Werke, Bd. 5, hrsg. von Norbert Miller, München 1963, S. 258

18  Reinhold Hohl, Die heiteren Facetten des Kubismus. Über die schein-illusionistischen Bildinhalte kubistischer Gemälde, in: Kat. Kubismus. Künstler – Themen – Werke, 1907–1920, Josef-Haubrich-Kunsthalle Köln 1982, S. 74

 

Martin Hentschel, 2007

 

aus:

STEFAN KÜRTEN - SHADOWTIME

 

Mit Texten von Martin Hentschel und Patrick T. Murphy

Katalog anlässlich der Ausstellung  STEFAN KÜRTEN - SHADOWTIME

in denKunstmuseen Krefeld, Museum Haus Ester, März/April 2007

und in der Royal Hibernian Academy, Dublin, Juli/August 2007

Hrsg. Martin Hentschel

Druck und Verlag: Kerber Verlag, Bielefeld, 2007